Europas wichtigste Neuheitenschau in Sachen Motorräder ist Geschichte. Wir haben uns unter den vorgestellten Bikes nach Trends umgesehen. Eines wird auf den ersten Blick klar: Das Wettrüsten geht weiter. Power-Renner mit 200 und mehr PS ziehen immer noch den Blick der Öffentlichkeit auf sich – auch wenn sie dann später kaum gekauft werden. Was soll dann dieser ungebremste Leistungswahn in Zeiten, in denen die meisten Motorradfahrer längst zu Vernunftmotorrädern greifen? So werden doch nur wichtige Entwicklungsressourcen ziemlich sinnbefreit verbrannt.
Die wahren Stars der Messe sind aber Modelle, die sich später auch in guten Stückzahlen verkaufen. Honda hatte dazu die 1100er Africa Twin wie auch die Adventure Sports bereits vor der EICMA präsentiert. Diese Evolutionsstufe ist tatsächlich dazu angetan, dem legendären Allrounder noch deutlich mehr Freunde zuzuführen.
Ähnliches hat sicher auch Suzuki im Sinn, die mit der V-Strom 1050XT optisch ganz nah an den erfolgreichen Wüstenrenner DR-Z oder auch einen der Urahnen aller Adventure-Bikes, die legendäre DR-Big, herankommen. Ob die Fans die vielen elektronischen Helfer, die nun Einzug fanden, auch goutieren, muss sich zeigen. Bisher galt die V-Strom nämlich gerade wegen des Verzichts auf übermäßige Regelsysteme als ein Hort der Zuverlässigkeit. Immerhin wurde der nahezu unkaputtbare V2 Euro-5-konform gemacht, was ihm noch ein langes Leben bescheren dürfte.
Einen echten Knaller hat KTM auf der EICMA gezündet. Mit fahrfertig 172 Kilogramm ist die 390 Adventure ein Leichtgewicht, wie es sich viele – auch erfahrene – Biker für ihre Abenteuertouren wünschen. Das Fahrwerk weist WP-Federelemente auf, die über formidable Nehmerqualitäten verfügen. Der A2-taugliche Einzylinder liefert 44 PS ab – völlig ausreichend für entspanntes Reisen auf und abseits befestigter Strecken. Wenn es sonst schon keiner baut: Dieser Single könnte sich als futuristischer Erbe einer XT500 entpuppen. Man darf gespannt sein, ob KTM dem Muster seiner höheren Baureihen treu bleibt und auch hier eine R-Version für noch intensiveren Offroad-Einsatz nachlegt.
Die Mattighofener Zweitmarke Husqvarna hat zwar keine Neuheit auf die Messe gestellt, aber ein Concept-Bike, das überraschend serienreif aussah und für Adventure-Fans passen dürfte: die Norden 901. Unter dem stilistisch aufregend gezeichneten Kleid steckt wohl der LC8c-Reihen-Zweizylinder mit rund 900 Kubik und etwa 105 PS. Bei entsprechender Nachfrage darf man von einem Verkaufsstart 2021 träumen.
Überraschendes zieht erneut aus Italo-Fernost auf. Benelli setzt unter chinesischer Führung seine Wiederauferstehung fulminant fort. In der Halbliterklasse gibt es bereits Modelle für jeden Geschmack auf einer einheitlichen wie attraktiven A2-Plattform. Mit der nackten 752S feierte in diesem Sommer bereits die Dreiviertelliter-Plattform Premiere. Auf der EICMA wurde nun der Leoncino 800 Scrambler – wieder in einer straßen- und einer geländeorientierten Trail-Version – vorgestellt. Rund 82 PS und 67 Nm schöpft das schmucke Mittelklasse-Bike aus dem vorhandenen Hubraum. Das sind sicher nicht von ungefähr ähnliche Leistungsdaten, wie Moto Guzzi es sehr erfolgreich mit der V85TT vorgemacht hat. Und es ist nicht auszuschließen, dass im Verlauf von 2020 auch noch zwei Adventure-Versionen folgen, die dann wohl TRK800 und TRK800X heißen dürften.
Da chinesische Besitzer nun auch bei Moto Morini das Sagen haben, deutet sich auf der EICMA bereits an, wohin die Reise – wahrscheinlich sehr schnell – gehen wird. In ersten Modellen mit dem Kürzel 6 1/2 (Seiemmezzo) werkelt ein 650er Reihen-Zweier, den es natürlich auch mit A2-freundlichen 48 PS geben soll. Ein schmucker Scrambler war bereits zu sehen, ebenso ein Crossover-Abenteurer, die X-Cape.
Frischer Wind für Reisende, die ihr Geld lieber in Kilometer denn in kaum nutzbare Höchstleistung investieren, kommt derzeit also fast ausschließlich aus Fernost. Kaum verwunderlich, sind es doch vor allem die eigenen Märkte, für die hier entwickelt wird. Ob Indien oder China: Eine breite, aufstrebende Bevölkerungsschicht besitzt zunehmend die Mittel, um dem Einsatzzweck eines Motorrads auch in diesen Ländern zum Umschwung zu verhelfen. Bisher billiges Massenverkehrsmittel, wird daraus in rasender Geschwindigkeit ein beliebtes Freizeitvergnügen. Wer angesichts der potentiellen Käuferzahlen dort noch meint, die Motorräder der Zukunft würden sich an unseren europäischen Bedürfnissen orientieren, der irrt gewaltig.
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